IV. DER JUNGE MIT DER KOHLENSCHAUFEL
Mittwoch. Heute erwarten wir besondere Gäste: Eine Gruppe von zwanzig amerikanischen Veteranen, die 1945 die Landung in der Normandie mitgemacht haben, hat sich angesagt. Sie werden in Frankfurt ankommen, bei uns übernachten und anschließend auf alten Spuren Deutschland bereisen.
GI’s. Erinnerungen an meine Kindheit werden wach.
Ich sitze zusammengekauert in einer Ecke eines winzigen Zimmers in einem Dorf in der Nähe von Kulmbach, zusammen mit sechs meiner acht Geschwister, zitternd vor Angst und Kälte. Es ist April, es ist kalt, es ist immer noch Krieg in Deutschland, und die Tante hat nicht eingeheizt, um Brennholz zu sparen. „Die Amerikaner kommen!“, hieß es, „bleibt im Zimmer und rührt euch nicht von der Stelle!“ Gerade sechs Jahre war ich damals alt.
Draußen auf der Holzstiege poltern Schritte. Etwas fällt krachend um. Die Schritte kommen näher.
„Werden wir jetzt alle erschossen?“, frage ich mit klappernden Zähnen meine große Schwester, die schon sechzehn ist, und versuche dabei, nicht zu weinen.
„Schscht“, macht sie bloß und drückt mir den Kopf sanft auf die Knie. „Sieh nicht hin, Jürgen!“ Ihre braunen Zöpfe zittern. Sie hat auch Angst.
Jemand drückt von außen die Türklinke herunter, sie quietscht ein wenig. Obwohl Rosemarie es verboten hat, spicke ich vorsichtig zwischen meinen Knien hindurch. Zwei Schnürstiefel, genau vor mir, und graugrüne Hosenbeine. Meine Zähne klappern immer heftiger, ich kann nichts dagegen tun. Wann schießt der Amerikaner?
Stattdessen ertönt eine laute, tiefe und freundliche Stimme, eine dunkelbraune Hand schiebt sich in mein Gesichtsfeld. Etwas Silbriges glänzt zwischen den Fingern. „Hey, boy, d’you want some chocolate?“
Ungläubig schaue ich auf und blicke in ein fast schwarzes, lachendes Gesicht mit strahlend weißen Zähnen. Vor Staunen vergesse ich fast meine Angst. Ein richtiger Neger! Er hält ein Gewehr in der Rechten, aber der Lauf zeigt auf den Holzfußboden.
„Here, take it!“ Die Hand wedelt vor meinem Gesicht herum.
Mit zitternden Fingern greife ich nach dem silbernen Gegenstand und rieche daran. Eine leise Erinnerung steigt in mir hoch. Schokolade! Einmal, es ist schon lange her, hatte uns der Vater zu Weihnachten Schokolade geschenkt. Etwas so Gutes hatte ich bis dahin noch nie gegessen, und danach auch nie wieder.
Die Hand wuschelt mir einmal durchs Haar, dann macht sich der Soldat daran, sorgfältig den alten Schrank und die klapprige Kommode im Zimmer zu durchsuchen, in der die Tante, meine Geschwister und ich unsere wenigen Habseligkeiten aufbewahren. Sie suchen versteckte Waffen, sagt uns die Tante später. Und dass der Krieg bald aus sein wird.
Seitdem schmeckt Kriegsende für mich süß, und ich liebe Amerikaner.
*
Mein Vater war Gendarmeriehauptwachtmeister in Bunzlau in Schlesien, wo er für einen riesigen Distrikt verantwortlich war. Die Familie wohnte in dem winzigen Dorf Lichtenwaldau, das heute Krzyżowa heißt, ungefähr zehn Kilometer nordöstlich von Bunzlau. Dort kamen ich und meine Zwillingsschwester im Oktober 1939 zur Welt.
An meine Mutter habe ich keine Erinnerung. Sie bekam sehr rasch hintereinander zehn Kinder, davon drei Mal Zwillinge. Wir müssen sie viel Kraft gekostet haben. Sie starb kurz nach der Geburt meiner beiden jüngsten Zwillingsbrüder, als ich gerade vier geworden war. Ihre Lunge war voller Löcher von der Tuberkulose.
Da mein Vater ständig in seinem Distrikt unterwegs war und sich kaum um seine sechs Töchter und vier Söhne kümmern konnte, zog eine unverheiratete Nenntante, eine Freundin meiner Mutter, zu uns und führte den kinderreichen Haushalt.
Mein Elternhaus habe ich genau vor Augen, obwohl ich nach der Flucht 1945 nie wieder dort gewesen bin. Es war ein stattliches weißes Gebäude mit einem dreieckigen Giebel. Unter dem Giebel, an der Hauswand, auf die man zulief, wenn man durch das Gartentor ging, hing ein Porträt von Adolf Hitler. Es war riesig groß, jedenfalls in meiner Erinnerung. Auch der Tisch, um den sich die zwölfköpfige Familie zum Essen versammelte, war riesig. Und um das Haus und das Dorf herum war nichts außer weitem Land.
Ich sehe noch den Garten vor mir mit den Apfel-, Birn- und Kirschbäumen, und den Lattenzaun, der den Garten umschloss. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir jedoch das kleine hölzerne Toilettenhäuschen, das sich im Garten befand. Im Sommer gab es hier viele Spinnen, vor denen ich mich schrecklich fürchtete. Meine Schwester Hannelore, die Zweitälteste, die ich über alles liebte und die mir ein wenig die Mutter ersetzte, ging deshalb immer mit, wenn ich das Häuschen aufsuchen musste. Ausgerechnet sie sollte die Wirren der Flucht nicht überstehen.
Es hätte eine Kindheitsidylle sein können, wäre mein Vater nicht gewesen, wie er war: über die Maßen streng und korrekt. Ein unordentlich gebundener Schnürsenkel oder eine schlechte Schulnote konnten, so erzählten mir später meine größeren Geschwister, einen fürchterlichen Zornesausbruch und drakonische Strafen nach sich ziehen.
Ein wenig scheint damals von seinem cholerischen Charakter auf mich abgefärbt zu haben. Wenn mir etwas nicht passte, konnte es passieren, dass ich wütend mit der Kohlenschaufel auf meine Mutter losging – im zarten Alter von drei Jahren. Mein Vater stand daneben und lachte über den Mut seines Sprösslings.
Nachts, wenn ich wie so häufig nicht schlafen konnte, stand ich auf und sah zum Fenster hinaus, stundenlang. In der Ferne zuckten Blitze von Flak-Feuer, dumpfes Grollen von Bombeneinschlägen war zu hören, am schwarzen Nachthimmel dröhnten Flugzeugmotoren. Es war Krieg, und die Front rückte näher.
Eines Morgens, es war Winter und noch stockfinster, weckte uns die Tante. Den Vater hatten wir seit Wochen nicht gesehen.
„Aufstehen, Kinder, und zieht euch warm an, wir fahren weg! Die Russen kommen!“
Für die Erwachsenen, die alles zurücklassen mussten und entwurzelt wurden, war die nun folgende Flucht ein Drama. Für uns Kinder war sie vor allem ein großes Abenteuer. Ich freute mich unbändig, dass wir so viel Auto fahren durften! Wir wurden auf die überdachte Ladefläche eines Lkws verladen, und los ging es.
Nachts schliefen wir in Schulturnhallen oder Gemeindesälen. Wir waren zusammen, wir hatten es warm, und es gab genügend zu essen. Für mich war die Welt damit eigentlich ganz in Ordnung. Dass ich mein Elternhaus und unser Dorf nicht wiedersehen würde, lag völlig außerhalb meiner Vorstellungskraft.
Irgendwann vermisste ich meine geliebte Hannelore. Doch als ich nach ihr fragte, bekam ich keine Antwort. Und dann fehlte auch noch Rosemarie, die Älteste. Erst viele Tage später stieß sie wieder zu uns. So lange hatte es gedauert, bis sie den Treck mit dem Fahrrad eingeholt hatte.
Lange Zeit danach, wir waren schon in Bayern und ich ging dort zur Schule, nahm mich Rosemarie in den Arm und erzählte mir, weshalb Hannelore nie mehr wiederkommen würde. Während einer Rast war sie vom Lastwagen geklettert. Als es weiterging, schaffte sie es nicht schnell genug nach oben, hängte sich hinten an die Ladefläche, fiel herunter und wurde von einem der nachfolgenden Lastwagen überrollt. Man brachte sie in ein Krankenhaus, und Rosemarie blieb bei ihr, aber die Ärzte konnten sie nicht mehr retten. Hannelore starb an ihren schweren inneren Verletzungen.
Auch die beiden Jüngsten fehlten auf unserer Flucht. Sie waren zu klein und wurden in einem Kinderheim in der späteren Ostzone untergebracht. Erst Jahre später sollten wir sie wiedersehen.
(aus: Jürgen Carl, Der Concierge. Autobiografie, geschrieben von Sibylle Auer)